Meine Damen und Herren,

wir, die wir heute zu dieser Ausstellungseröffnung gekommen sind, haben sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Umgang der Kunst. Aber auch unterschiedliche Erwartungen, etwa was den Gebrauchswert von Kunst betrifft. Zum Beispiel, ob wir den Wert von Kunst danach bemessen, ob wir uns vorstellen können, sie mit nach Hause zu tragen und zum Bestandteil unseres Alltags zu machen. Die Frage ist doch:

"Was erwarten wir von Kunst?
Welche Funktion hat sie für uns?"


"Bilder sind Gegenstände für den geistigen Gebrauch!" sagte ein Philosoph. Aber auch als solche können sie selbstverständlich unterschiedlichen Zwecken dienen und Erwartungen erfüllen. Sie können erzählen, anklagen, huldigen, ironisieren, sie können mahnen, sie können Träger einer existentiellen Botschaft sein.... und sie können unsere Sehgewohnheiten in Frage stellen, uns in unserer Konsumschläfrigkeit aufrütteln wollen. Dekorativ, informativ, polemisch. Das ist Kunst in einem unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhang. Doch immer eine unabhängige Kunst, wenn sie aufrichtig ist.

Daneben gibt es eine Kunst, die leicht zur Gradwandening zwischen Freiheits-Anspruch und Erwartungserfüllung wird. Ich meine jene Auftragskunst, die allzuoft - und unter dem ökonomischen Überlebenszwang - Anbiederung an längst Bestätigtes, Risikoloses vollzieht. Unsere Städte sind voll davon. Andererseits konnte ein Auftrags-Porträt ein Meilenstein der Kunstgeschichte sein, - und doch vom Auftraggeber abgelehnt worden sein, - weil er sich nicht genügend idealisiert fühlte. Doch das ist beileibe nicht nur eine Erfahrung der Moderne - Rembrand z.B. Doch das alles ist nur die eine Seite der Medaille. Daneben und durchaus gleichgewichtig gibt es künstlerische Äußerungen, die nicht das sprachlich Faßbare meinen.

"Ein Bild ist ein Bild, nichts anderes als ein Bild!"

sagte ein Künstler, der sich konkret nennt und den nur das Verhältnis von Farbverteilung, Farbintensität und Bildraum interessiert.

" Wenn ich etwas zu erzählen hätte, dann wäre ich Schriftsteller geworden! "

sagte ein Künstler zu mir. Und ich mußte anerkennen, daß die einzige Botschaft seiner Bilder ihre unverwechselbare Asthetik waren. Bilder, die Stille in die Hektik und den Lärm (auch den optischen Lärm) dieser Zeit tragen wollten.

Ein Aspekt nur, doch hier etwa konnte man ansetzen, wenn man sich den Bildern von Julita Gorgon-Zgraja nähern will. Sie antworten nicht auf die Frage: " was bedeuten sie?" Natürlich bedeuten sie der Künstlerin etwas; denn sie sind ihre Schöpfung, Teile ihres Lebens. Aber sie deuten nichts. Und sie bedeuten für Sie nur das, weil sie etwas für SIE bedeuten. Das heißt, wenn Sie ihnen eine Chance geben, indem Sie sich auf sie einlassen.

Und dennoch will ich diese Bilder nicht zu schnell von ihrer Schöpferin ablösen. Denn sie haben schon ihre Geschichte, sind schon Ergebnisse von Lebenserfahrung , im Alltäglichen wie im Globalen.
Kunstwerke stehen nie isoliert da. Sie sind immer eingebunden in einen historischen Prozeß. So wie die Bilder des Dadaismus die unmittelbare Reaktion auf die Erfahrung der Leiden von Verdun waren, so sind auch die Bilder von Julita Gorgon - wenn auch weniger dramatisch - das Produkt von Zeiterfahrung. Zeit-Zeichen sozusagen, wie auch ein Bildtitel aussagt.

Sie sind das Ergebnis eines künstlerlebenlangen Versuches, für eigene Betroffenheiten eine eigene, gültige Bildsprache zu finden. "Finden" heißt dabei "erfinden". Und zweifellos hat Kunstmachen immer etwas mit "Erfinden" zu tun, mit dem Überschreiten von Grenzmarken, die andere Künstler mit ihren Erfindungen gesetzt haben. Kunst machen heißt: einen Schritt weitergehen als andere, einen kühnen Schritt ins Ungewisse, Unbestätigte, und dabei den Weg des breiten Einverständnisses verlassen. Der Anspruch, nicht Epigone, also Nachschöpfer zu sein, sondern einen eigenen Beitrag zur Entwicklung von Kunst leisten zu wollen, erfordert Mut. Den Mut des Entdeckers, der als erster den Fuß ins unerforschte Niemandsland setzt. Mit allen Gefahren - vor allem denen des Nichtverstandenwerdens. Und das ist ja wirklich ein bedeutsames Problem. nn: Woran erkennt man eigentlich, daß im Neuen, Ungewohnten möglicherweise "Kunst" entsteht? unächst einmal ist ja jede künstlerische Äußerung eine Behauptung: DIES IST KUNST!.
Und diese Behauptung bedarf der Bestätigung - durch die Kritiker, die Museen, die Galeristen, und nicht zuletzt durch das Publikum, also auch den Käufer, der das physische Überleben des Künstlers sichern hilft. Zugleich ist jede künstlerische Äußerung auch ein Stück Selbstpreisgabe.

" Seht, das bin ich! Ich mit meinen Verletzungen, Ängsten, aber auch Hoffnungen. "

Und genau dies spiegelt sich ja auch in den Bildern von Julita Gorgon wieder. Es ist die Erfahrung des Verletzt werdens, die wohl uns alle beherrschende Hilflosigkeit angesichts des ungeheuren namenlosen Unheils auf dieser Welt, - als Ergebnis verbrecherischen Handelns der einen und als Ergebnis des Schweigens der anderen. Was ist die bandagierte Kugel denn anderes als eine Metapher für die so unendlich geschundene Welt.?
Reaktionen auf diese Zeiterfahrung finden sich auch in jenen Bildern, in denen sie die Leinwand durchbricht. Formal entsteht zunächst etwas, das wir aus dem Werk eines Lucio Fontana kennen. Es entsteht der Durchbruch in die dritte Dimension, in jene Räumlichkeit, in der die Skulptur existiert. Doch es ist mehr:
Das Bild wird also gleichsam zur Skulptur.

Wenn Kunst den Anspruch stellt nicht nur eine eigene Wirklichkeit zu sein, sondern auch unsere erfahrbare Alltags-Wirklichkeit zu durchdringen, dann ist diese physische Durchdringung ja nichts weniger als ein symbolischer Akt mit dem Ziel, das Bild hinter dem Bild, - die neue Wirklichkeit hinter der durch das Bild verhüllten Wirklichkeit zu entdecken. Vielleicht auch als ein Akt der Häutung, durch den eine neue Lebensform entsteht.

Die kompositorische Bewußtheit dieser Verletzungen läßt erkennen, daß es sich hierbei nicht vordergründig um einen Akt der Aggressivität handelt, auch wenn er sich aggressiv gebärdet. Doch diese AWession richtet sich nicht gegen das Bild an sich. Es richtet sich gegen die Konvention, die es verkörpert. Denn Kunst und Konvention stehen im Widerspruch zueinander. Konvention, das ist die Norm, die die Gesellschaft vorgibt,. Konvention ist der Rahmen, aus dem wir nicht fallen sollen, wie uns die Erziehung gelehrt hat. Der Rahmen, der schützt und der im Zweifelsfalle alles deckt, was in seinem Namen geschieht. "Wenn das der Führer wüßte! " war ein fast täglich gehörter Satz meiner Kindheit. Der Führer: das war das moralische Maß, die Orientierung, der Ralunen. Ein Rahmen, der Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung ausschloß. Doch KUNST machen, heißt: Verantwortung übernehmen - auch fur den Zustand unserer Welt. Es gibt keine Verantwortung ohne Freiheit. KUNST ist immer Ausdruck von FREIHEIT. Wo ihr diese Freiheit genommen wird, hört sie auf, Kunst zu sein.

Freiheit sucht Julita Gorgon-Zgraja, indem sie aggessiv und spielerisch den Rahmen sprengt und hinaustritt in einen Raum, in dem auch Sie sich begegnen. In diesem Raum können Sie sich begegnen, - die Bilder und Sie, verehrtes Publikum. Und Sie werden vielleicht erkennen, daß diese Bilder gar nicht so trostlos sind, wie meine Auslegungen es nahezulegen scheinen. Sie sind voller Lebensmut, voller Optimismus und voller Glauben an die Überlebenskraft der Natur, deren Teil wir alle sind.


Dieter Treeck